Liebe Freundinnen und Freunde, lieber Matthias, ich sitze im Zug zurück nach Hause und bin immer noch ganz benommen. Eben bin ich vom Schaffner kontrolliert worden und habe ihm vor Aufregung meinen Schläger vorgezeigt. Frisch klebt nun ein Sticker „Freakfahrgast 2019“ auf meiner Bahncard. Aber ihr müsst verstehen: Ich habe schon viel erlebt im Tischtennissport. Aber als ich heute beim Derby dem Schiedsrichter meine „Kelle“, wie es in Kreiskreisen heißt, anvertraut habe und er sie dann inspiziert und dann in ein braunes DinA4- Kuvert gesteckt hat, wo sie zu bleiben hatte, bis man dran war – da habe ich vor Freude geweint. Als der Parteilose kurz auf Klo war, habe ich einen Blick reingeworfen in die Tüten und geguckt, ob er auch was zum Schnuggeln reingetan hat. Hatte er nicht. Aber der Duft, der mir entgegenkroch, war ein ganz besonderer. Ein vertrauter.
Die Geschichte begann vor zwei Monaten. Ich fühlte mich unwohl, schwach. Krank. Ich ging zur Ärztin, zur zweiten, zur dritten. Doch niemand konnte mir sagen, woran ich litt. Ich rief meinen alten Hausarzt Ewald B. an. „Was fehlt mir bloß, Doc?“ „Ach, alter Freund“, seufzte der Doc. „Die Oberliga. Die Oberliga fehlt dir.“ Er verschrieb mir einen Doppelspieltag gegen Weitefeld-Langenbach und Wackernheim. Und zum „Warmwerden“ ein Verbandsligaspiel in Worms (Fußnote 1 (F1)).
Es ist nicht das erste Mal, dass ich die Zustände in der Verbandsliga zu beschreiben versuche, und der ein oder die andere mag sich denken: genug davon! Wir wissen Bescheid! Schluss mit dem Elendstourismus! Aber ich denke: Wir dürfen nicht aufhören, aus den Krisengebieten zu berichten, wir dürfen nicht aufhören, hinzuschauen.
Die zweite Mannschaft ist unser Talentschuppen. Hier werden unsere Talente langsam herangeführt an die Erkenntnis, dass alles umsonst war. Als fein sortiertes Lager konzipiert, dem Oberligateam wenn vonnöten dienlich, vermodern und verstauben sie hier doch letztlich bloß vor sich hin, setzen Rost an und trösten sich mit dem alkoholgeschwängerten Abendfazit, dass „immerhin die Stimmung“ gut war, man „tolle Gespräche geführt“ und den „Alltag für einen kurzen Augenblick hinter sich gelassen“ habe. Mir bleibt das Spiel als heimliches Treffen der Anonymen Fehlaufschläger („Hallo mein Name ist Matthias und ich bin süchtig“) in Erinnerung; doch missen möchte ich die Erfahrung nicht, bin ich doch endlich einmal wieder in Kontakt mit jungen Leuten getreten. Florian S. hat mich über die neuesten Entwicklungen im Jugendwortschatz (F2) in Kenntnis gesetzt. Danke dafür! Und dass du zurzeit viel „Bratsche spielst“, muss dir weiß Gott nicht unangenehm sein. Ich hatte als Jugendlicher, zumal bevor ich meine erste Freundin hatte, auch nichts anderes im Kopf.
Nach dem Spiel fuhren wir zurück nach Klein-Winternheim, trafen uns unterwegs aber zufällig noch im Szenetreff „Zum Treffpunkt“ in Wörrstadt. Manchmal hat man einfach Glück! Der Abend endete „gesellig“ und bedarf keiner weiteren Kommentierung.
Ach doch, ich erzähle es, weil es wirklich Wahnsinn war: Claus B. sagte zu Matthias, dass er, Matthias, wenn er seinen Bart abrasieren würde, dass er dann so aussehen würde wie seine Großmutter (die von Matthias, nicht von Claus). Es war, haltet euch fest: als Kompliment gemeint! Wirklich! (F3) Langjährigen Begleitern ist sicher aufgefallen, dass ich hin und wieder ein bisschen Tatsachenstretching betreibe. Aber das hier hat wirklich so stattgefunden.
Ich schwanke bloß, ob das der richtige Zeitpunkt ist, um noch einmal zu schwören, ja auf Gott zu schwören, dass Yves B. weiland als C-Schüler mit Yvette J. vom TV Dienheim in der Mixed-Konkurrenz angetreten ist. Und es war nicht so, dass sie gesagt hätten: Haha, das ist ja
witzig, ja komm, dann spielen wir zusammen Mixed oder knutschen, wegen den Namen, nein, sie war damals die beste C-Schülerin in Rheinhessen, und er war der beste C-Schüler in Rheinhessen, deswegen spielten sie zusammen. Manche Leute sagen, Willi Conradi schreibe die besten Geschichten, aber ich sage euch: Es ist das Leben, nein, ich sage euch: Es ist der Tischtennissport.
Die Ereignisse in Weitefeld-Langenbach verblassen vor diesem Hintergrund. „Heute wollen wir einmal in den Westerwald fahren und mit anderen jungen Männern Tischtennis spielen!“, das mag für Ungläubige seltsam klingen, ist es aber ganz und gar nicht, wir gingen in Führung, es stand 6:4 für uns, aber dann spielten Nicolas und Marco und Yves und dann Roman, und ihr möchtet wahrscheinlich schon schreien, Junge, ist das aber ein langer Satz, mach mal ́n Punkt (F4), und da sage ich, ja, das war auch das, was ich den Boys fortwährend zuschrie, doch sie machten keinen, und so verloren wir 6:9, denn auch ich kam mit den Handtuchboxen null zurecht, es waren so Kästchen auf Stelzen, und da sage ich: Das hat mit unserem Sport nichts mehr zu tun!
Aber schließlich ist es das Derby, das Derby in und gegen Wackernheim, wofür wir all das auf uns nehmen, wofür wir trainieren, kämpfen; wofür wir leben, Hochsicherheitsspiel, das Derby eben, oder wie ich sage: Verteidigung gegen die dunklen Künste (F5). Nach der Begrüßung (provokant: „…begrüßen unsere Gäste mit einem einfachen brusen: Bauch!“) (und dann aber wir mit dem Konter: „Ihr habt Bock, wir ham: Böcking!) ging es holterdipolter los. Das Niveau war hoch, einige der Spieler machten sogar Rückhand. Und so ging es munter hin und her, bis es vorbei war und wir gewonnen hatten. Besonders hervorheben möchte ich Nicolas. Er war unser größter Spieler. Marco der kleinste, würde ich sagen. Roman und Yves haben zeitweilig mit Links gespielt. Chen Zh. war mal wieder der älteste. Und ich, ich war der Neugierigste.
Im Trubel der Verabschiedung stahl ich mich noch einmal an den Schiedsrichtertisch. Ich öffnete eins der Kuverts und schnupperte. Es roch vertraut. Es roch nach krankem Ehrgeiz und verschenkter Jugend, vergeudetem Talent und schließlich: Stolz und Würde. Es roch nach Oberliga.
In Liebe, David
F1 Ich weiß noch, dass für mich eine Welt zusammenbrach, als ich erfuhr, dass ich umsonst jahrelang das Computerspiel „Worms“ boykottiert und ausschließlich „Mainzweeper“ gespielt hatte. Wieder einmal werden die Sinngrenzen von Lokalpatriotismus offenbar. Ganz klar schön hingegen, dass meine Großtante zeit ihres Lebens nicht in Wiesbaden shoppen war, weil sie meinte, dass sie dort „sicher nichts finden“ würde.
F2 „Lost“ nicht nur örtlich gemeint, also im Sinne von letzter Bus verpasst, Mist, wo bin ich hier, Ober-Olm, sondern auch im emotionalen und kognitiven Kontext. „Anders“ als Adverb im Sinne von „mega“ oder „krass“, also zum Beispiel: „Das war echt andersschlecht“, aber auch alleinstehend.
F3 Nach langer Überlegung bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Es ging davor darum, das sei hier ergänzt, dass Matthias ja so schlank geworden sei. Claus wollte sagen: Mein lieber Mann, bist du kantig geworden! Wenn du jetzt auch noch deinen Bart abrasierst (der dich rundlicher erscheinen lässt), siehst du aus wie deine Großmutter (die mutmaßlich so eingefallene Wangen hat, kantig, schmal, bescheiden). Matthias konterte zeitgemäß und trocken: „Ok Boomer.“
F4 Weitere Wortspiele, die es nicht in diesen Text geschafft haben: Netz-E-Roller, sich die Kante geben, Claus ́ Trophäen, he she yves das s muss mit, sieht den ewald vor lauer (sic!) brusen nicht.
F5 Ich verliere mich. Aber wo soll ich hin mit all den Informationen, die binnen dreier Tage mein Ohr geküsst haben? Eine RSV-Delegation war neulich auf einem Fantasyfestival bei Hamburg. Sie haben Quidditch gespielt, und Steffen N. hat dort den Kurs „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ belegt. Endlich kann er sich gegen Görgs wehren.