„Ich muss kurz rüber fürs Foto“, sagte Sebastian zu seinen Freunden am Gau-Odernheimer Tisch, „bin gleich wieder da.“ In der anderen Ecke der urigen Gaststätte „zur Linde“ warteten wir schon ungeduldig. Claus positionierte sich mit dem Fotoapparat. „Alle lächeln bitte“, sagte der Sportdirektor, „macht mal yves!“
Und erst lächelten wir, und dann lachten wir. Wir lachten, bis wir nicht mehr konnten. Vor Freude. Vor Glück. Vor allem aber: vor Erleichterung. Vor Erleichterung, dass wir es geschafft hatten. Raus aus der Hölle, rein in den Himmel, sozusagen von Nieder- nach Ober-Olm – von der Verbandsoberliga in die Oberliga. Und wenn ich Verbandsoberliga sage, meine ich Verbandsunterliga, und wenn ich Liga sage, meine ich – ja, was meine ich dann? Ich meine, dass eine „Liga“, in der jeder Kristof im „oberen Paarkreuz“ (seien wir ehrlich: dass es hier überhaupt ein oben und unten, also eine Hierarchie gibt, ist blanker Hohn. Als würde man zu einer der Toastscheiben eines schwarzverbrannten Sandwichs sagen: Du bist noch schlimmer als die andere, du bist schuld!, und sie dann nackt durch den von der Kerbejugend gesäumten Bandweidenweg treiben und Shame! Shame! rufen; einen Gang, den ich lieber Marco (sieben Niederlagen, in Worten: sieben) antreten sähe, der, um es freundlich auszudrücken, offensichtlich der Leistungsgesellschaft den Kampf angesagt hat), in der also jeder Kristof in einem beliebigen Paarkreuz mithalten kann, keine Sportklasse im selbst weitesten Sinne ist, dass also dort schlichtweg unser eigentlich doch so schöner! Sport mit Füßen getreten wird, besser gesagt mit klobigen Schuhen, und zwar mit so welchen mit Leuchtelementen, wie sie der kleine David seinen Eltern nach langem Betteln und Flehen abgerungen hat – um dann verzweifelt festzustellen, dass der Dorfadel schon längst zu neuen Modeufern weiter gezogen ist und der Kerbekönig jetzt Schnürschuhe trägt.
Apropos: Die Saison begann mit einigen Personalwechseln, darunter schmerzliche Verluste ;): Der kleine David und Henrik hatten mit Tischtennis aufgehört und sich in die zweite Mannschaft zurückgezogen, in beste Gesellschaft mit „Am meisten mag ich irgendwie Rundlauf“-Florian und „Wie oft darf eigentlich der Ball aufdotzen?“-Philipp. Dafür waren „Zibbo“, wie er mich nach einem langen Spieleabend bei Nagels gebeten hat fortan zu nennen – ich verrate wohl nicht zu viel, wenn ich kurz erwähne, dass es zum Ende hin einen kleinen Streit gab, an dessen Ende wiederum Steffen leicht beleidigt war und infolgedessen den Siegerpreis dankend ablehnte –, waren also Zibbo aus Singapur und unser Murmeltier aus Gau-Odernheim zurückgekehrt.
Und dann gab es ja noch die große Umstellung auf den Plastikball, die insbesondere in den Lokalredaktionen erst zu Unruhe, dann Wut und schließlich zu Panik geführt hat: Was wird aus den Zelluloidakrobaten? Ich habe diese Katastrophe schon vor Jahren vorausgesehen und vor den absehbaren Folgen, der sprachlichen Ohnmacht gewarnt; jetzt stehen wir alle, und mit alle meine ich Julia, dumm da und wägen täppisch Vorschläge wie Kunststofffürsten und Plastikclowns ab – ohne jemals dem warmen Timbre Marcos auch nur nahe zu kommen, wenn er seiner Freundin morgens aus der Zeitung von seinen zelluloidakrobatischen Erfolgen bei den Kreismeisterschaften vorlas, immer und immer wieder. Ich erwähne an dieser Stelle gerne, dass es mir einst gelang, dreimal in Folge Doppelkreismeister zu werden.
Meine große Stärke war schon immer das Doppel. Ist es da eine Überraschung, dass ich mit Nicolas das einzige mehrfach angetretene Doppel unserer Mannschaft gebildet habe, das ungeschlagen blieb? Stets gegen das gegnerische „Spitzendoppel“? Nein, das ist keine Überraschung. Dass ich aber nach Zibbo mal wieder die wenigsten Niederlagen einstecken musste, lag ehrlichweise auch daran, dass ich vielen Spielen fernbleiben musste, weil ich mit schwerer Unterforderung im Bett lag und die Ärztin mir ausdrücklich verboten hatte, meinem zarten Gemüt die seelischen Qualen anzutun, die mich in der Halle erwarten würden. Ganz zu schweigen von der schlimmen Ansteckungsgefahr, mit der das Unvermögen uns Könner geißelt und verschreckt.
Ansonsten ist dieses Jahr nicht viel passiert. Das Aufregendste, das ich mit Blick auf die Ergebnislisten entdecken kann, sind zwei Sätze von Marco, die 17:15 ausgegangen sind, ein Satzverlauf, der mich an die Karriere von Matthias erinnert: viele Aufschläge, viele Rückschläge. Die Vereinsmeisterschaften waren auch recht uninteressant. Es ist ein Sinnbild für den Spannungsabfall, den unsere Mannschaft ereilt hat, dass ausgerechnet Marco, der während der Saison Niederlagen wie der kleine David früher Diddl gesammelt hat – nämlich leidenschaftlich und in großer Stückzahl – Vereinsmeister geworden ist.
Ab nächster Saison wird wieder alles anders. Die Gegner heißen nicht länger Mülheim-Urmitz/Bahnhof und Weißenthurm-Kettig, sondern wieder Weitefeld-Langenbach und Nassau, und Sebastian fliegt mit den ersten Herbstwinden wieder in den Süden nach Gau-Odernheim, unser kleiner Zugvogel, und Chen Zhibin bleibt unser Zugpferd, „und ich bin ein Zug!“, höre ich den kleinen David summen, „tschuff tschuff tschuff die Eisenbahn, wer will mit nach Simmern fahren?“
Wenn ich so vorausblicke, wird mir ganz warm. Ich freue mich auf großzügige Handtuchboxen und frische Oberschiedsrichter, auf blühende Mannschaften und Gegner, die nicht fragen, ob der Aufschlag Acker muss und ob sie auch mal Rückhand probieren können. Die Schnitt nicht nur aus dem Film und Ballonabwehr nicht nur von n-tv kennen. Die „Gut Sport“ sagen und dabei nicht lachen müssen, sondern den Sport so lieben, wie wir es tun, und ihn nicht in der Verbandsoberliga ins Lächerliche ziehen.
Wir kehren zurück nach Hause.
Von David Weber